Quelle: Jungle World vom 23. Dezember 1998
Autor: Samuel Salzborn
Erfindung eines Begriffes
Der Bund der Vertriebenen nutzt sein 40jähriges
Verbandsjubiläum, um der Welt zu erklären, was
eigentlich "Vertreibung" ist.
"Solange es sich für die Täter 'lohnt', zu vertreiben und
Bevölkerungsgruppen abzuschlachten", ereiferte sich die
Präsidentin des Bundes der Vertriebenen (BdV), Erika
Steinbach, werde es auch "Vertreibung" geben. Deshalb
sei es "unabdingbar erforderlich", daß die
Staatengemeinschaft darauf dränge, "Vertreibungsopfer
durch die Vertreiberstaaten zu entschädigen und die
Rückkehr in die Heimat zu ermöglichen". Dazu gäben die
"politische Wende" in Osteuropa sowie die bevorstehende
EU-Ost-Erweiterung die Chance, auch den Deutschen und
ihren Vertriebenen "Gerechtigkeit und die Erfüllung der
Menschenrechte zu bieten", so die Frankfurter
Christdemokratin.
Anlaß dieses jüngsten öffentlichen Plädoyers der
Vertriebenen-Chefin: Ihr Verband feierte am 14. Dezember
seinen vierzigsten Geburtstag. So ganz genau hat man es
mit den Jahreszahlen jedoch nicht genommen. Zwar
konstituierte sich der BdV 1958, seine eigentliche
Gründung erfolgte aber bereits ein Jahr zuvor: Am 27.
Oktober 1957 schlossen sich der Bund der vertriebenen
Deutschen (BvD) und der Verband der Landsmannschaften
(VdL) offiziell zusammen. Während den BvD vorher vor
allem soziale und ökonomische Fragen beschäftigt hatten,
setzte sich der VdL für integrative Maßnahmen ein. Er
übernahm sozusagen den Part der Brauchtumspflege unter
regionalistischen und nationalen Gesichtspunkten. Für
Linus Kather, den ersten Präsidenten des BdV, war diese
Parallelexistenz von "landsmannschaftlichen"
Organisationen und allgemeinen "Vertriebenverbänden"
ein "verderblicher Organisationszwiespalt". Schließlich
gehöre "Ostpreußen nicht der Landsmannschaft gleichen
Namens", es gehöre "nicht einmal den Ostpreußen, es ist
ein Teil des deutschen Reiches und gehört also dem
ganzen deutschen Volk".
Die heutige Struktur des BdV geht zurück auf diese beiden
Vorgängerorganisationen. So heißt es in einem aktuellen
BdV-Papier: "Der Bund der Vertriebenen spiegelt in seiner
organisatorischen Gliederung das Schicksal der ost-,
sudeten- und südostdeutschen Heimatvertriebenen wider,
sein Aufbau wird von zwei Faktoren bestimmt: der
landsmannschaftlichen Verwurzelung in einem bestimmten
Vertreibungsgebiet; dem Wohnort im Aufnahmegebiet."
Wenn der BdV anläßlich seines Jubiläums nun wieder von
"Vertreibungsverbrechen" und "Vertreibungsopfern"
spricht, dann liegt dem eine schlichte politische Strategie
zugrunde: die Revision der Geschichte. Schon vor Ende
des Zweiten Weltkrieges waren sich die Alliierten einig,
daß die deutsche Bevölkerung aus den vormals eroberten
Ostgebieten ausgewiesen werden mußte. Den Begriff
"Vertreibung" kannte man damals noch nicht. Im
Potsdamer Abkommen kam er weder in der englischen,
französischen, deutschen noch in der polnischen Fassung
vor. Werner Nellner wies in dem dreibändigen
Sammelband "Die Vertriebenen in Westdeutschland. Ihre
Eingliederung und ihr Einfluß auf Gesellschaft, Wirtschaft,
Politik und Geistesleben" von 1959 darauf hin, daß es in
den Jahren 1945 und 1946 üblich war, die "Gesamtheit der
seit Ende 1944 durch die militärischen und politischen
Ereignisse" in die westlichen Besatzungszonen
"Verschlagenen als 'Flüchtlinge' (refugees)" zu
bezeichnen, wobei "vor allem nach Herkunftsgebieten
unterschieden wurde". Der Begriff "Vertriebene" sei erst
1947 entstanden.
Denn zunächst hatte sich, ergänzt Heinrich Rogge in
derselben Schrift, "die Bezeichnung 'Flüchtlinge' in
Umgangssprache und Ländergesetzen" als "Sammelname
und Oberbegriff" eingebürgert. Das "Unrecht der
Vertreibung" werde mitgedacht, erläuterte Rogge. Dieser
Ausdruck gebe "eine andere Würde als der Name
Flüchtling". So sei auch der "deutsche Rechtsterminus
'Vertriebener'" zu verstehen: als "fortlaufender Protest
gegen das Unrecht der Vertreibung". Seine offizielle
Einführung erfuhr der Begriff "Vertreibung" erst 1949 durch
die Ius sanguinis-Definition des deutschen
Staatsangehörigkeitsrechts im Grundgesetz. Die
endgültige Legitimation erfolgte schließlich durch die
Einführung des "Bundesvertriebenengesetzes" (BVFG) im
Jahr 1953.
Auf dieser Grundlage wird der Anspruch auf die Definition
von "Vertriebenen" erhoben - und damit zugleich die
Unmöglichkeit festgeschrieben, den Begriff einem anderen
Menschenzusammenschluß - beispielsweise
nicht-deutschen Flüchtlingen - zuordnen zu können, ohne
dabei die deutsche "Vertreibung" mitdenken zu müssen.
BdV-Vorsitzende Steinbach bezieht sich bei ihren
aktuellen Äußerungen ganz bewußt auf diese Tradition:
Wer sich heute "Vertriebener" nennen will, dem solle stets
bewußt sein, daß der Bevölkerungstransfer der Deutschen
nach Ende des Zweiten Weltkrieges Unrecht gewesen sei.
Diese "große europäische Wunde der Vertreibung",
erläuterte Erika Steinbach folgerichtig, müsse "geheilt"
werden.
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